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Female Positions

Female Positions - 20 Positionen in Form von Analysen, Erlebnissen, Erfahrungen, Sehnsüchten und Veränderungsansätzen, die das Hier und Jetzt aus weiblicher Sicht abbilden - 20 Blickwinkel zur Verortung von Geschlechtergerechtigkeit. Es gibt noch viel zu tun..

Female Positions wurde zu einem der schönsten Bücher Ö gewählt.

Mit Beiträgen von:

Ljuba Arnautovic, Daniela Banglmayr, Susanne Baumann, Tanja Brandmayr, Elisabeth Cepek-Neuhauser, Conny Erber, Katja Fischer, Sabine Gebetsroither, Johanna Grubner, Beate Hausbichler, Sandra Hochholzer, Anna K Laggner, Mari Lang, Verena Koch, Barbi Markovic, Eva Sangiorgi, Claudia Seigmann, Tanja Traxler, Hiroko Ueba, Claudia Wegener





Marion Reisinger 


"Wir blicken auf ihre Werke und begegnen mit ihr - als geheimnisvoller Reiseleiterin - den eigenen Fantasien. Marion baut Malerei: Collagen aus Ölfarbe, sperrige Strukturen, körperreiche Schichten, halb transparente Säfte, die durch die Farbebenen fließen." 

(Ursula Hübner über Marion Reisinger)



Der Salon

"Zum Gespräch zwischen 18 und 20 Uhr ging man also zu Julie de Lespinasse, zum Souper in den späteren Abendstunden zu Madame du Deffand, montags zu Madame Geoffrin, dienstags zu Madame de Tencin und so fort."

Die Salonkultur ist ein bedeutendes Phänomen des 17. bis 20. Jahrhunderts, das der Initiative von Frauen zu verdanken ist. Es war der Anfang der Frauenemanzipation. Das eigenständige Bemühen um Bildung und Unterhaltung schuf dieses Gegenstück zu der von Männern dominierten Gesellschaft. Für die Gesamtgesellschaft leisteten Salons eine überaus integrierende und wertvolle Kulturarbeit. Eingebettet in ein sich über ganz Europa erstreckendes Netz wurden Informationen ausgetauscht; es entstanden vielfältigste Verbindungen von Kunst, Literatur, Musik, Theater und Politik, die sich gegenseitig bereicherten und unabhängig von nationalen Grenzen, Orte der Weltoffenheit, Verständigung und Freundschaft entstehen ließen ( aus Anett Oertel: Der literarische Salon der Berta Zuckerkandl, 2000, Wien).

Der Salon bezeichnet "einen Ort weiblicher Kultur", er "kristallisiert sich um eine Frau", in unserem Fall um mehrere Frauen.

Der Salon in Linz startet als 3teilige Reihe.

Termine:

1.12.22 19h Mutterschaft und Feminismus (Anna K Laggner, Samira Baig)/Wissensturm Linz

14.3.23 19.30 Sykorax oder Über das Verschwinden - Frauen und Alter(n) (Verena Koch)/Theater Phönix Linz

1.5.23 16h A life like any Other - Frau Film Familie (Moderation: Beate Hausbichler)/Crossing Europe 2023 


Die Kolumne in der Referentin

#1

Wer sind wir?

Und wie wurden wir die, die wir sind?

Was ist in uns angelegt? Was ist durch Erziehung, Sozialisation und Gesellschaft weg- und hinzugekommen?

Wo stehen wir?

Und wovon träumen wir, wenn man uns fragt?

Die Welt bricht wieder einmal auseinander. Gerade lässt uns die Pandemie Zeit zum Verschnaufen, müssen wir uns in Europa mit einem Krieg auseinandersetzen - weil ein alter, weißer Diktator beschlossen hat, sein Aggressionspotential auszuleben.

Aber es geht in einem viel größeren Sinn um Demokratie, die wieder einmal verhandelt werden muss, verbunden mit vielen Rechten und Errungenschaften. In der allgemein aufgeheizten Stimmung werden etwa diejenigen Stimmen wieder laut, nicht nur in Russland, sondern z. B. auch in den republikanisch geführten Bundesstaaten der USA, die z. B. Abtreibungsrechte und Rechte für LGBTQ's beschneiden möchten. Weil Krisen sind auch immer da, um bereits sicher geglaubte Rechte wieder rückgängig zu machen. Krisen sind da immer eine willkommene Rechtfertigung.

Die Pandemie hat uns das einmal mehr eindrücklich vor Augen geführt. Wie es auch um die Geschlechtergerechtigkeit in unserem Land bestellt ist. Bekannterweise sahen sich Frauen von einem Tag auf den anderen wieder in der Heimchen-am-Herd-Position. Kochen, putzen, waschen, Kinder betreuen, Hausaufgaben machen, von zu Hause arbeiten - ein Traum für alle Frauen. Doch Frauen haben seit Jahrhunderten um ihre Rechte gekämpft - und sollen, können und werden das Feld nicht (schon wieder) den Männern überlassen. Der Aufruf "Frauen aller Länder vereinigt euch" mag dabei nicht neu sein und wegen der unterschiedlichen Lebensrealitäten dieser Frauen-Weltbevölkerung auch nicht ganz leicht umzusetzen, doch im Kern sollte es immer wieder um eine neu ausgerufene Solidarität zwischen Frauen gehen. Aber wie kann das in diesem Klassen-Race- und Gender-Umfang von "Frauen aller Länder" ein Ansatz sein? Und wo fängt man da mit einem solidarischen Wir an? Ein solidarisches Wir, das weder Abstraktum noch Theorie bleibt, sondern aus unmittelbarer, diverser Erfahrung gespeist ist?

Wir - und das meint jetzt eine Herausgeberinnen-Gruppe von drei Frauen - haben jedenfalls einen anderen Weg als den männlichen einschlagen. Wir wollen uns, einfach gesagt, unser Leben so gestalten, wie wir es wollen und wie es uns Spaß macht. Und falls das ein wenig nach Pippi Langstrumpf klingen mag, geht es eben gerade nicht darum, jeden Tag ein Pferd hochstemmen zu müssen. Wir wollen auch nicht einen technischen Beruf erlernen, wenn uns das nicht taugt und wir wollen auch nicht 60 Wochenstunden arbeiten, um zu glauben, dass wir wichtig und unabkömmlich sind. Wir wollen nicht wie Männer sein müssen, um uns zu behaupten. Wir wollen einfach die Hälfte des Geldes, der Macht und der Positionen, die uns zustehen, eben weil wir die andere Hälfte der Menschheit sind. Und wir wollen einfach so sein wie wir sind. Das heißt auch, dass die andere Hälfte der sozialen Realität, das Sorgen um/für Andere, das Beziehungen am Laufen halten und das Freundschaften pflegen, nicht grundsätzlich vernachlässigt werden sollen. Und das ist es auch, was eine Gesellschaft ausmacht und von der sie lebt, und auch in Zukunft überleben wird können!

Für unsere Publikation female positions haben wir 10 Frauen gewinnen können, die mit uns ein Jahr lang über all die Probleme diskutiert haben, die uns und wahrscheinlich viele Frauen beschäftigen. Diese Frauen haben ihre ganz persönlichen Geschichten aufgeschrieben, um uns und andere daran teilhaben zu lassen. Nach dem Lesen der Texte ist uns (wieder) klar geworden, dass es nur darum gehen soll, uns selbst zu gefallen und uns wieder in erster Linie mit anderen Frauen zu solidarisieren - Solidarity, Sisters!

Durch diese Solidarität, durch das Miteinander der Frauen ist es möglich, die Gesellschaft zu verändern und zwar, indem wir zuallererst unser Leben so leben, wie wir es für richtig halten. Und auch wenn es banal und etwas naiv klingen mag: Die Gesellschaft wird sich dann einfach - und in aller Diversität - danach ausrichten müssen und dadurch verändern.

Wovon träumen wir?

Jahrelang haben wir mit dem Gedanken gespielt ein Buch zu machen. Wir haben hier einen feministischen Ansatz gewählt, der undogmatisch an direkten Erfahrungsbereichen und Expertisen ansetzt. Wir wollten Frauen als Autorinnen gewinnen, die wir sehr schätzen und bewundern. Die meisten, die wir angefragt haben, haben zugesagt. Und haben beim Schreiben zum Teil sehr gekämpft damit, ihre persönlichen Standpunkte in Texten zu verarbeiten.

Entstanden sind female positions.

Female positions erscheint am 22. 6. 22.

#2

"Mein Sohn lebt in einem Matriarchat", verkündet mein Onkel meiner Begleitung und mir beim Kaffee im kühlen Esszimmer ... der Sohn, mein Cousin, sitzt ebenfalls mit uns am liebevoll gedeckten Tisch, auf dem kleine Brötchen mit Schinken und Mayonnaise und ein Teller mit verschiedenen bunten Kuchenstücken den draußen beinahe unerträglich heißen Nachmittag schmackhaft begleiten. Eine Frage der Gastfreundschaft, denn meine Tante ist eine erfahrene, routinierte Gastgeberin.

Mein Cousin versucht der Aussage seines Vaters durch Lachen und Kopfschütteln etwas Scherzhaftes zu geben. Nicht, weil es ihm peinlich wäre, in einem Matriarchat zu leben, oder ebenso zu leben, wie er eben lebt mit einer gebildeten, beruflich erfolgreichen Frau und einer Tochter, die fast so groß ist wie er und gerade begonnen hat zu studieren. Ein artiges Kind, lernt brav. Auch mein Cousin ist erfolgreich in dem was er tut, aber er spricht wenig darüber, er ist nicht der Nabel der Welt ...

Nein, es ist ihm unangenehm, weil mein Onkel diesen Zustand sichtlich als verwerflich darstellen möchte, als wenig erstrebenswert. Die Kritik am Familienleben des Sohnes im Begriff des Matriarchats zu verpacken mit der Absicht, es ein wenig lächerlich erscheinen zu lassen, das findet mein Cousin unpassend. In Wahrheit macht es dem Vater zu schaffen, dass seine Schwiegertochter nicht allem zustimmt und eigene Vorstellungen hat. Nicht nur in der Beziehung, sondern in ihrer ganzen Lebensführung. Sie betrachtet die Generation, die dem Establishment nacheifert und sich dem guten Leben uneingeschränkt und unkritisch hingibt, ihrerseits kritisch. Sie folgt dem Leistungsprinzip durchaus, aber mit etwas mehr Bewusstsein für die Probleme, die es nebenbei auch noch gibt auf der Welt.

Ich sage zu meinem Cousin (ebenso scherzhaft): "Vielleicht sollte deine Frau auch ein Buch herausgeben!"

Mein Onkel hat natürlich schon mehrmals Bücher herausgegeben - in denen es hauptsächlich um ihn und seine Arbeit geht - da sollte sie mal nachziehen die Schwiegertochter, die Matriarchin. Das könnte dann neben den Büchern meines Onkels im Bücherregal stehen.

Und damit zurück zu meinem Onkel. Er ist beruflich sehr erfolgreich und ist ein kluger Mann mit einem gewissen Hang zur Selbstliebe, wie das bei erfolgreichen Menschen nicht ganz unüblich ist und sich bei älteren Männern zunehmend stärker ausprägt. Er ist der Überzeugung, dass zwei Menschen gemeinsam mehr schaffen können als einer allein - was Tante und Onkel absolut vorgelebt haben - und dass diese beiden Menschen dann auch Verantwortung füreinander übernehmen müssen - Scheidungen findet er völlig absurd. So weit so gut. Dem kann ich durchaus etwas abgewinnen. Und seiner Annahme, dass es allein schwieriger ist als zu zweit, kann ich aus Erfahrung nichts entgegensetzen.

Doch die Zeiten haben sich verändert. Die geübte Hausfrau, Mutter und Gefährtin zu sein und den Erfolg der besseren Hälfte mit jeder Faser zu unterstützen, ist selten geworden. Oder besser gesagt, das selten gewordene Modell wir trotzdem ausprobiert - auch umgekehrt - und oft verworfen. Oder bestenfalls kreativ umgewandelt - auch das bringen Beziehungen mitunter zustande. Dazu bedarf es allerdings weder eines Matriarchats noch eines Patriarchats - ich würde es "ein modernes Familienleben" nennen.

Momentan sehe ich viele Familien, die genau deshalb funktionieren, weil niemand auch nur eine überzählige Minute Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen, ob das alles befriedigend ist. Überforderung an allen Ecken und Enden. Aber es funktioniert - fernab jeder Romantik!

Sich ein paar Gedanken zu machen über Gehalts- und Pensionsanpassungen, geschlechtergerechte innerbetriebliche Strukturen und Berufsbilder wäre gerade deshalb hilfreich.


#3

Auch wenn diese Kolumne nichts lieber möchte, als sich in Gleichwürdigkeit und in gelebter Vielfalt gleichen Rechts und gleicher gesellschaftlicher, politischer und sozialer Ausgestaltung von Chancen, Rollen und Positionen zu sonnen, wird frau sich doch häufig sowohl mit Windstille also auch den Sturmböen der zeitgenössischen Frauenbewegung, dem ruhigen Vor-sich-Hin-Gedeihen im bereits Erreichten oder dem abgelegenen Dunkel von Armutsgefährdung, von Prekariat, von Mental Overload oder von der Unvereinbarkeit von Beruf(-ung) und Familie konfrontiert sehen. Obschon gleichzeitig und andererseits auch viele neue Frauengruppierungen sprießen und wachsen, bleibt zu wünschen, dass sowohl Ruhe als auch die Stürme der Zeit genutzt werden, um echte Transformation im Sinne von Herrschaftsfreiheit, Gleichwürdigkeit und Würde voranzutreiben.

"Kapitalismus tötet ohne Notwendigkeit", meint Jean Ziegler in einem Artikel des Magazins Kontrast vom 18. April 2019 und: "Unsere Welt quillt über vor Reichtum". Doch die UNO-Pressekonferenz 2010 verlautbart: "Frauen verrichten 66 % der Arbeitsstunden der Welt und produzieren 50 % der Nahrung. Aber sie erhalten 10 % des Welteinkommens, besitzen 1 % des Eigentums, und sie stellen 60 % der ärmsten Menschen der Welt dar." Während Jean Ziegler anführt, dass es sich bei Armut und Hunger primär um eine globale Verteilungsproblematik handelt, führt der Pressebericht der UNO, der sich bis dato inhaltlich nicht substantiell geändert hat, vor Augen, dass gerade Frauen von dieser Ungleichheit der Verteilung des Volksvermögens und der damit einhergehenden Armut, einer Grunderfahrung von Gewalt, betroffen sind. Ein sehr breites und schlüssiges Erklärungsspektrum für diese frappierende Vulnerabilität von Frauen bietet die italienische Autorin, politische Aktivistin und emeritierte Professorin für politische Philosophie und internationale Politik Silvia Federici. Wie sehr die Unterwerfung der Frau, die Hexenverbrennung, die Kolonialisierung, der Niedergang des Feudalismus, der Beginn der Industrialisierung und der erstarkende Kapitalismus im Eigentlichen miteinander verwoben sind, zeigen ihre Forschungserkenntnisse und demgemäß die Grundthesen. Laut ihrer Synthese war die Hexenjagd sowohl in Europa als auch in den amerikanischen Kolonien nicht nur eine Herrschaftsstrategie, sondern von Anfang an eine recht bewusste Herangehensweise, um den kollektiven Widerstand zu brechen und die Bevölkerung zu spalten. Die Hexenverbrennung ist also gleichermaßen bedeutsam für die Entwicklung des Kapitalismus wie die Strategien der Kolonialisierung und der Enteignung der Bauern in Europa. Denn Kapitalismus war nach Federici nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Krise der Feudalmacht, sondern das Ergebnis einer Konterrevolution gegen die sozialen Bewegungen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die sich nicht zuletzt des Instrumentariums der Hexenverfolgung zur Durchsetzung ihrer Macht bediente.

Aus meiner Sicht gilt es heutzutage die Potentiale des Umbruchs der Zeit für die Anliegen der Frauen, im Geiste weiblicher Werte zu gestalten: eine Lebensweise zu forcieren, die nicht eine der Fortschreibung von Ungleichheit und machtpolitischer Hierarchisierung ist, sondern den Bedürfnissen der Menschen und der Natur in ihrer Ebenbürtigkeit entspricht. Das kommt der am meisten von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppe, nämlich den Frauen, zugute, und bedeutet letztlich strukturelle Befreiung vom spätkapitalistischen Patriarchat und von Ausbeutung, Unterdrückung, Knechtschaft und Zerstörung letztendlich auch der Natur. Lehrt uns die Geschichte der Umbrüche seit Jahrhunderten, dass die Revolution ihre Kinder frisst, so wissen wir doch, dass trotz der Stürme, die auf uns zukommen, Veränderungen im Kleinen, im Verhalten, im Alltag, in unseren Lebens- und Beziehungsformen, in unserem Miteinander mit Bestimmtheit das sein werden, was bleibt.

In der nicaraguanischen Revolutionslyrik galt der Wind, der Sturm als zentrale Metapher für den Umbruch, für den gerechten Wandel. Viele Stürme, nicht nur eine Böe, charakterisieren auch die Frauengeschichte unserer Zeit. Nicht nur im Iran, in Belarus, in Syrien oder in Nicaragua. Das Rascheln der Blätter, der Wind in den Bäumen und das behände Rauschen seines Klangs mache uns gewahr für den langen Atem. Wir werden ihn brauchen.

Von Evelyn Bernadette Mayr

Evelyn Bernadette Mayr ist Autorin, Professorin, Studium der Hispanistik und Germanistik mit Genderschwerpunkt, publiziert Prosa und Lyrik in Deutschland und Österreich, 2-fache-Wiener Exilliteraturpreisträgerin für poetische, feministische und antirassistische Schreibwerkstätten, Berliner Literaturpreis für Soziale Balance, ökologische Zukunft & politische Rechte 2017 (2. Platz), 2019 Stipendium für Literatur & Menschenrechte in Meran für das Projekt Frauenrevolution in Nicaragua.


#4

Mitleid mit dem digitalen Baby

An einem Freitagnachmittag im November fahre ich mit meinem fünf Monate alten Sohn mit dem Zug nach Linz. Als er etwas quengelig wird, spazieren wir durch die Zugabteile, sein Blick bleibt bei zwei Fahrgästen hängen, woraufhin ich mit ihm stehen bleibe. Ich komme mit den beiden ins Gespräch: Wie alt mein Sohn sei? Wie die gemeinsamen ersten Monate verlaufen waren? Ein übliches Gespräch, das ich als Mutter eines Babys bereits gut kenne. Als mein Sohn das Handy entdeckt, das am Tisch zwischen meinen GesprächspartnerInnen liegt, fixiert er es intensiv, sein Körper beugt sich ekstatisch in Richtung des Handys. Meine Gesprächspartnerin bemerkt das Interesse und die Vehemenz meines Sohnes, sie legt den Kopf schief und fragt in mitleidvollem Ton: "Ah … ist er mit dem Handy aufgewachsen?". Im ersten Moment verstehe ich nicht, was diese Frage bedeutet – ob er ein Handy hat? Ich überlege eine Sekunde und antworte: "Nein …". Die Frau sieht meine Verwirrung und wird deutlicher, ihr Ton mitleidvoller: "Naja… beim Stillen viel am Handy gewesen?"

Ich entnehme ihrer Frage eine gewisse Traurigkeit, ein Mitleid meinem Sohn gegenüber. Muss das arme Kind bereits in seinen ersten Lebensmonaten mit einer Welt fertig werden, in der Handys einen so hohen Stellenwert einnehmen? Eine Welt, in der die Mutter sich mit ihrem Handy beschäftigt und sich das Interesse des Kindes dadurch bereits so früh an digitale Geräte heftet? Dieses Mitleid, das sie meinem Sohn entgegenbringt, macht mich nachdenklich. Wie ist in unserer Gesellschaft die Nutzung digitaler Geräte durch Kinder organisiert? Ein Baby, das sich für ein Handy oder einen PC interessiert, löst anscheinend eher Mitleid aus; auch einer 3-Jährigen wünscht man nicht unbedingt Begeisterung für Fernsehen oder You­tube-Clips, zumindest nicht mehr als am Spielen mit Gleichaltrigen. Auch noch mit 12 sollen Kinder die letzten Züge ihrer unbeschwerten Kindheit genießen und nicht stundenlang Videospiele spielen. Zur gleichen Zeit, mit ungefähr 12 Jahren, sollen die Kinder dann jedoch Digital Natives sein bzw. müssen durch Digitalisierungsoffensiven an Schulen schnellstmöglich zu welchen gemacht werden. Und damit niemand "abgehängt" wird, gibt es auch finanziellen Zuschuss für einkommensschwache Familien beim verpflichtenden Laptopkauf. Zwischen fünf Monate alten und 12-jährigen Kindern bestehen augenscheinlich völlig gegensätzliche Ansprüche und Wünsche – einmal von Technologie ferngehalten und einmal dazu verpflichtet. Wie geraten Kinder von dem einen Pol zum anderen? Wie ist dieser Wandel zu erklären?

Digitale Geräte sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dauerhafte Erreichbarkeit, schnelle Kommunikation, freundschaftliche Vernetzung über digitale Medien durch Sprache, Text, Bilder und Videos. Die digitalen Möglichkeiten schimmern sozial, schön und nach Unterhaltung. Es hängt jedoch auch ein Schleier von Notwendigkeit über ihnen, sie sind schlicht zu praktikabel. Ohne Onlinebanking eine Geldtransaktion zu tätigen ist zeitaufwändig, wenn auch nicht unmöglich. Kein Handy zu haben? Sehr schwer. Keine E-Mail-Adresse? Unmöglich. Umschlossen von Selbstverständlichkeit hat sich eine Abhängigkeit eingestellt, die uns in einer Weise an moderne Technologie bindet, bei der Verweigerung das Leben teilweise unmöglich machen würde. Was hier nach Zwang schmeckt, ist der Umstand, dass digitale Geräte sich nicht wie andere Gebrauchsgegenstände nach Belieben und eigenem Ermessen wieder aus der Hand legen lassen. Ganz im Gegenteil müssen sie verwendet werden, um teilnehmen zu können. Der Philosoph Ivan Illich hat Geräte, die benutzt werden müssen, zu denen es keine Alternative gibt, als radikales Monopol bezeichnet. Er beschreibt damit die "Dominanz eines bestimmten Produkttyps", der Menschen zu "Zwangskonsumenten" macht, deren persönliche Autonomie der Nutzung einschränkt und so eine "spezifische Form des kulturell determinierten Verhaltens" vorgibt. Handy und PC können als so ein radikales Monopol verstanden werden – wir sind von ihnen abhängig, um in der Freizeit wie auch in der Arbeitswelt teilnehmen zu können.

Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund der Wandel, der sich gesellschaftlich bei der Handy- und PC-Nutzung zwischen einem Baby und einem 12-jährigen Kind vollzieht?

Kinder ab einem gewissen Alter sollen der Notwendigkeit der Teilhabe an einer digitalen Welt zugeführt werden, es scheint eine moralische Pflicht darin zu stecken "niemanden zurückzulassen". Wenn es sich um Babys handelt, scheint die Moral zu diktieren, sie so lange wie möglich von dieser Abhängigkeit fernzuhalten. Ist das Mitleid mit meinem Sohn Ausdruck der impliziten Erkenntnis, dass wir uns der unbemerkten Zwangsläufigkeit dieser Geräte nicht entziehen können? Wird uns diese Unumgänglichkeit technologischer Geräte erst bewusst, weil es eben genau Babys sind, die Handys noch mit einer Zwanglosigkeit und nach eigenen Kriterien nutzen? Mein Sohn möchte ein Handy abschlecken und es durch die Gegend werfen und erlebt dadurch Freude, die für Erwachsene hinter dem Zwang einer vermeintlich selbstgewählten Nutzung verschwunden ist.

Von Johanna Grubner

Johanna Grubner ist Soziologin und feministische Theoretikerin. Sie forscht an der Johannes Kepler Universität zu gesellschafts- und kapitalismustheoretischen Fragestellungen. 


https://diereferentin.servus.at/female-positions